„Leg den Talisman nicht aus der Hand!“
Jiro, der das rote Stoffsäckchen in die Hosentasche hatte stecken wollen, hielt inne. Seufzend behielt er es in der Linken, während er Grüntee aus seinem Thermos trank. Nach einem Snack aus Nüssen und Datteln verstauten sie den Proviant und verließen die Lichtung.
Jiro schielte zu Fumiko: khakifarbene Outdoorkleidung, die schulterlangen schwarzen Haare praktisch zurückgebunden. Auch sie trug einen der Talismane in der Hand, die sie geöffnet und mit einigen Strichen angepasst hatten, sodass sie Yin-Energie nicht mehr abstießen, sondern anzogen.
Yin durchdrang das Reich der Gespenster, Geister und Yokai, die unsichtbar für menschliche Augen unter ihnen weilten. Als Fumiko ihn im Speisesaal der Uni angesprochen und ihm einen Flyer des ‚Clubs zur Erforschung übernatürlicher Phänomene‘ unter die Nase gehalten hatte, war er neugierig geworden.
Übernatürliche Wesen waren immer noch besser als Statistik zu pauken und in drei Jahren in die Fußstapfen seines Vaters bei Sumitomo zu treten.
Später hatte er herausgefunden, dass der sogenannte ‚Club‘ nur zwei Mitglieder hatte: Fumiko und einem Computerfreak namens Okita, der seine Nächte damit verbrachte, Gerüchte und fragwürdiges Halbwissen über urbane Legenden und Spukphänomene aus dem Internet zusammenzutragen, über die er auf Clubmeetings stundenlange Vorträge hielt.
Fumiko war eine echte Fanatikerin, die sich ausgeklügelte Strategien überlegte und das Geld, das sie von ihrem Nebenjob im Konbini verdiente, in Ausrüstung steckte, um Geister oder übernatürliche Wesen herauszulocken. In ihrem Rucksack trug sie stets eine Sofortbildkamera und ein Fläschchen Salz bei sich. Sie war es, die Jiro an diesem freien Wochenende auf den Berg gezerrt hatte, auf dem es vor Tanuki wimmeln sollte.
„Warte!“, zischte sie plötzlich. Jiro erstarrte.
Aber das Rascheln kam nur von einem Fasan, der einige Meter weiter im trockenen Herbstlaub nach Würmern pickte.
Sie stiegen weiter bergan. Fumiko lief kreuz und quer zwischen den Bäumen hindurch, bis Jiro allmählich an ihrem Plan zweifelte. „Bist du sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“
„Wenn wir logisch vorgehen, können sie uns leicht durchschauen und unseren Weg meiden. Wir müssen sie überraschen. Wenn wir einen finden wollen, dürfen wir keinem bestimmten Muster folgen.“ Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Wenn sie über die Jagd von Geistern und Yokai sprach, nahmen ihre Augen einen kalten Schimmer an, wie Obsidiansplitter.
„Weißt du, wo wir sind?“
„Wir haben GPS“, sagte sie und holte ihr Handy aus der Jackentasche. Stirnrunzelnd tippte sie darauf herum, bevor sie mit den Schultern zuckte und es wieder einsteckte. „Oder auch nicht. Aber so groß ist dieser Berg nicht. Wenn wir abwärts gehen, finden wir schon wieder in den Ort zurück. Schalt am besten dein Handy aus. Die Schwingungen könnten sie abschrecken.“
Jiro tat wie geheißen. Nach dieser Ansage fehlte ihm der Mut, zu fragen, wie lange sie noch weitersuchen würden. Die Sonne war längst hinter den halb kahlen, halb mit orangerotem Laub bedeckten Bäumen versunken und die Luft kühlte ab.
Als die Dämmerung dem Wald die Farben entzogen hatte, erreichten sie den Kamm eines besonders steilen Hügels. Fumiko war zuerst oben und duckte sich abrupt. Ohne ihn anzusehen, winkte sie ihn mit einer Hand näher.
Jiro schlich heran, so leise er konnte, und hockte sich neben sie. Hinter dem Hang hatte ein kleiner Bach eine Rinne in den Berg gegraben. Das Wasser sprudelte drei Meter über ihnen aus einem bemoosten Felsenbett und sammelte sich in einer fußballgroßen Aushöhlung, bevor es weiterfloss. Am Rand dieses Teiches kauerte ein Tier mit rotschwarzem Fell und runden Ohren.
„Ist das …“
„Schh!“, zischte Fumiko, aber auch sie hatte es erkannt: ein Tanuki.
„Hol die Kamera aus meinem Rucksack“, flüsterte sie, ihr Atem heiß in Jiros Ohr. Beide versteiften sich bei dem Geräusch des Reißverschlusses, aber der Tanuki trank weiter. Fumiko hob die Kamera und betätigte den Auslöser. Klick klick klick.
Der Tanuki hob den Kopf. Die dunklen Augen mit den schwarzen Schatten darunter wirkten riesig und zu intelligent für ein hundeartiges Tier. Jiro und Fumiko bewegten keinen Finger, ja, Jiro blieb der Atem im Hals stecken.
Aber als er blinzelte, war der Tanuki verschwunden.
„Woher wissen wir, dass er kein stinknormales Tier war? Wie ein Fuchs oder so?“, fragte er, als sie mit großen Schritten den Berg hinabmarschierten.
„Hast du es nicht gehört?“, fragte Fumiko.
„Was gehört?“
Sie grinste. „Er hat uns gewarnt, aus dieser Gegend zu verschwinden. Dass wir großes Pech haben werden, wenn wir noch länger herumschnüffeln.“
„Das hat er dir gesagt?“
„Ja!“, rief sie aus und wedelte mit einem Foto aus ihrer Kamera in der Luft herum. In der Dunkelheit konnte er darauf ohnehin nichts erkennen. „Und wir haben die! Das wird uns niemand glauben!“ Ihr Lachen hallte in dem dunklen Wald wieder wie in einer Tempelhalle.
Jiro war zu müde von der Wanderung, um zu diskutieren. Als er spät am Abend in seiner Wohnung ankam und den Rucksack auspackte, war der Talisman nicht mehr rot und mit hübschen Goldstickereien verziert, sondern verkohlt. Schwarz und brüchig. Leiser Feuerholzgeruch stieg Jiro in die Nase.
Er schauderte.
Gegen besonders mächtige Yokai waren Talismane aus Stoff und bedrucktem Papier wirkungslos.
Das Unbehagen begleitete Jiro in den nächsten Tag, die nächste Woche hinein, aber er brachte es trotzdem nicht über sich, das staubige Säckchen wegzuwerfen. Stattdessen behielt er es in seiner Tasche und wusste selbst nicht, ob als Erinnerung oder als Warnung.