Inhaltswarnung1
Als eine schwere Hand auf seine Schulter fällt, erstarrt Usira.
„So früh schon auf?“
Langsam dreht er sich zu seinem Vater um: das Gesicht voller scharfer Ecken und Kanten, die weißen Haare straff zurückgebunden und keine Falte der lavendelfarbenen Robe am falschen Platz.
„Guten Morgen, Vater“, sagt er und neigt den Kopf. Mehr muss er nicht sagen. Sein Vater weiß bereits, warum er eine Stunde vor den anderen Lehrlingen auf den Beinen ist.
„Wohin?“, fragt er stattdessen.
„Auf der letzten Jagd wurden einige Netze beschädigt. Die wollte ich flicken, bevor der Clan wieder nach uns schickt.“
Sein Vater starrt ihn mit gletscherkaltem Blick nieder. Sie wissen beide, dass das Netzlager neben dem Schrein liegt. „Usira“, beginnt sein Vater. „Wir Isvalri sind Handwerker. Wir fangen die Motten und bereiten sie für die ehrwürdigen Clans zum Verzehr zu. Das ist eine Kunst, ja, aber keine Mystik.“
„Es kann nicht schaden, um den Segen des Tiefen Gottes zu bitten“, entgegnet Usira.
Sein Vater kneift die Augen zu schmalen Eissplittern zusammen. „Jeden Morgen? Eine ganze Stunde lang? Diese Stunde solltest du darauf verwenden, dein Wissen zu mehren oder dein Geschick zu verbessern! Ich habe dich auf der letzten Jagd gesehen. Wenn du mehr geübt hättest, wäre dieser Schwefelfalter dir nicht entgangen!“
„Ja, Vater“, sagt Usira, denn als guter Sohn kann er den eigenen Eltern ebenso wenig widersprechen wie den Isvalri-Ahnen oder dem Tiefen Gott höchstpersönlich.
Sein Vater gräbt die Finger in seine Schulter, bis Usira blaue Flecken fürchtet, erst dann lässt er los. „Du wolltest Netze flicken? Dann geh.“
Usira wartet, aber sein Vater bleibt mitten im Hof des Tropfquartiers stehen. Natürlich wartet er ab, ob Usira seinem Befehl folgt. Nach einer kurzen Verneigung bleibt Usira nichts anderes übrig als den Lagerraum zu betreten und die löchrigen Netze zusammenzuraffen. Sein Vater ist streng und misstrauisch genug, um auch im Schrein nachzusehen.
Mehrere Stunden später kehrt Usira von einer weiteren Audienz bei den Noe zurück und nutzt die Abwesenheit seines Vaters, um in den Schrein zu schlüpfen. Er kniet sich vor der mit schwarzen Seidenschleiern verhängten Statue auf den Stein und kreuzt die Arme vor der Brust.
„Ehrwürdige Ahnin“, ruft er seine Urmutter an, die erste Isvalri, die über Jahrhunderte hinweg zu einem Synonym für die Motten selbst geworden ist. „Ich danke Euch für einen weiteren Tag, an dem Eure Motten uns ernähren und bereichern. Ich danke Euch“, fährt er fort, obwohl die nächsten Worte wie Felsstaub auf seiner Zunge sind, „für die weise Führung meines Vaters und seinen Ehrgeiz, der auch der meine ist.“
Er atmet tief durch. „Ich bitte um Euren Segen für morgen und das nächste Jahr. Ich bitte darum, dass die Noe unser Talent erkennen und uns in Zukunft mehr fördern.“ Und ich bitte darum, von ihnen auserwählt zu werden, denkt er nur, denn auch in seinem eigenen Tropfquartier haben die Wände Ohren.
Die Gunst der Noe würde ihm Abstand von seinem Vater verschaffen, Freiheit und Macht. Und da mit Usira auch sein Vater an Stellung gewinnen würde, könnte der sich nicht einmal beschweren.
Als Usira sich verneigt, bis seine Stirn den Boden berührt, durchströmt ihn wie nach jedem Gebet tiefer Frieden - ein Zeichen, dass die Urahnin ihn gehört hat. Dass sie sich um ihn kümmern wird. Dass er Vertrauen haben kann.
Und das hat er. Vertrauen in sie, die ihn auffängt und auf ihren bleichen Schwingen weiterträgt, egal, was kommen mag.
Erwähnung von Motten