Inhaltswarnungen1
Das Polidori war eine Phantombar. Wer den Namen in den Schatten geflüstert hörte, fand schnell heraus, dass sie in keinem einzigen Tourismusführer und auf keiner Webseite existierte. Die wenigen Eingeweihten wahrten ihr Geheimnis aus eigenem Interesse.
Tatsächlich war das Polidori in einen winzigen, nur über eine schmale Seitengasse erreichbaren Keller gequetscht. Hinter der zerkratzten schwarzen Holztür warteten weinrot gepolsterte Stühle, eine Handvoll Tische mit Marmorplatten und über dem Getränkeregal ein goldgerahmter, angelaufener Spiegel.
Das Gewöhnlichste an diesem Ort waren die Bartender. August lief wie jeden Abend in der Abenddämmerung durch die Seitengasse und spähte dabei in das schmale Fenster auf Knöchelhöhe. Wie jeden Abend konnte von außen nur Schatten erkennen, obwohl er an langsamen Nächten oft an der Bar lehnte und die wenigen vorbeitrappelnden Schuhe beobachtete.
Eine Stunde später hatte die Dunkelheit sich über die Gasse gesenkt und die ersten Kunden betraten den Keller. Sie zogen Kapuzen von den Köpfen, enthüllten weiße Gesichter und hungrige Blicke, blähten schnuppernd Nasenflügel und richteten sich auf. Hier mussten sie sich nicht verstecken, konnten sie selbst sein und an der Bar ihren Durst löschen.
Als August schon hoffte, die erste Welle wäre vorüber, wehte doch noch ein kalter Hauch die Stufen herab und brachte eine kleine Gestalt im hellbraunen Pelzmantel mit: eine zierliche junge Frau mit einem glatten weißblonden Haarschopf. In der plötzlich stillen Bar hörte August das Rascheln ihrer schwarzen Stoffhose, während er einen Drink einschenkte und mit einer aufgespießten Olive garnierte.
Die schwarzen Augen der Kundin entsetzten ihn, als er sich umdrehte. Sie hatten die dunkle Tiefe eines Meeresgrabens, tiefer als Menschen tauchen konnten. Das Alter dieser Augen passte nicht zu dem faltenlosen Gesicht. Aber das Polidori zog nun mal ungewöhnliche Leute an. „Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte August.
„Hauscocktail, A negativ“, sagte sie.
„Kommt sofort.“ Geübt nahm August den entsprechenden Behälter aus dem Kühlschrank, füllte ein weiteres Cocktailglas und fügte einen winzigen Salzrand hinzu. Mit der leichten Verneigung, die alle Bartender am ersten Arbeitstag lernten, schob er das Glas vor sie. Behandelt alle Vampire wie Aristokraten, war ihnen eingeschärft worden, schmeichelt ihnen, aber keine Kriecherei. Unaufrichtigkeit riechen sie noch schneller als eure Blutgruppe.
Diese Vampirin sagte nur: „Danke, mein Lieber“, und hob ihr Glas Blut an die Lippen.
Er hatte eine rauchige, sogar heisere Stimme erwartet, keinen melodischen Mezzosopran. Aber es war ein ruhiger Abend. Nachdem er ein Paar an einem Tisch bedient hatte, zog ihr Blick ihn zurück wie eine Glühbirne, die der Motte Wärme versprach.
„Verrätst du mir, woher du stammst?“, fragte sie. Natürlich hatte sie seinen Akzent bemerkt.
„Aus einem Dorf an der Grenze. Ich bin in die Stadt gefahren, sobald ich achtzehn war, aber meine Eltern und Geschwister sind noch dort.“
„Du bist ganz allein in die Großstadt gezogen? Wie abenteuerlich … und einsam.“
Er musste das Gesicht verzogen haben. Sie lächelte. „Keine Sorge, A negativ ist meine bevorzugte Blutgruppe.“
„Dann habe ich wohl Glück, dass ich Null positiv bin“, sagte er. Der Scherz sollte ihren Bann über ihn brechen, aber ausgesprochen klang er hohl in Augusts Ohren.
Sie trank einen Schluck. Ihre Lippen waren dunkler als noch vor einer Minute. „Es ist keine Gewohnheit von mir, unwillige Opfer zu nehmen. Glaubst du mir das?“
Vergesst nicht, sie sehen euch nur als Beute, stieg die Warnung aus seiner Erinnerung auf. Ihr seid niedere Wesen für sie. Schwach, kurzlebig und nicht die Mühe wert. Die meisten werden euch nicht mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Mobiliar. Die wenigen, die euch ansprechen … die sind am gefährlichsten.
Aber diese Frau starrte ihn weder hungrig an noch kommandierte sie ihn herum wie den niedersten Diener. Im Gegenteil, sie war die menschlichste Vampirin, die er in seinen fünf Jahren im Polidori je getroffen hatte. „Ich glaube Ihnen“, sagte er.
Und die übermenschlichen Sinne ihrer Art mussten ihr verraten, dass er nicht log oder nur sagte, was sie hören wollte.
„Du hast einen wachen Geist“, sagte sie langsam. „Ich wette, Jobs in Bars sind nicht alles, was du dir von deinem Leben erhoffst. Hast du daran gedacht, zu reisen?“
Er starrte sie an. „Oh, ich würde gerne die Pyramiden sehen, aber auch die Gletscher und Geysire in Island, Mangrovenwälder und die Terrakotta-Armee … Ich hätte Schwierigkeiten, mich für einen Ort zu entscheiden, auch wenn ich irgendwann das Geld für eine Reise hätte.“ Plötzlich verlegen senkte er den Kopf. „Ein Teil meines Gehalts geht an meine Familie, wissen Sie.“
„Familie ist wichtig.“ Sie nickte, als hätte auch sie irgendwo auf der Welt Blutsverwandte. „Wie heißt du?“
„August.“ Ihre Worte über Familie zupften an ihm. Vielleicht konnte er sie fragen, diese so menschliche Vampirin. Ein echtes Gespräch führen. August öffnete den Mund, aber da klopften am anderen Ende der Bar Knöchel auf den Tisch. „Etwas Nachschub?“
„Verzeihung!“ August eilte hinüber. Einige Kunden beschlossen, ebenfalls mehr zu trinken, und dann trat eine Dreiergruppe ein, die ihn lang und breit über die ausgefalleneren Cocktails auf der Karte ausfragte.
Als August sich endlich wieder zu der blonden Vampirin umdrehte, war sie verschwunden. Als er das leere Glas und die Bezahlung einsammelte, fand er neben dem großzügigen Trinkgeld auch einen Zettel vor. Die Handschrift war krakelig und überraschend schwer zu entziffern.
Du suchst Abenteuer und ich suche einen Begleiter auf meinen Weltreisen. Wir scheinen mehr gemeinsam zu haben als die Namen römischer Kaiser. Ich würde gerne herausfinden, wie viel. Die Wahl liegt bei dir.
Darunter standen eine Telefonnummer und ein Name: Octavia.
August wusste, was sein Chef und seine Kollegen über diese Einladung sagen würden. Er erstickte ihre Stimmen in seinem Kopf, faltete den Zettel zusammen und steckte ihn sich in die Hosentasche.
Erwähnung & Darstellung von Blut