Inhaltswarnungen1
Unten lief alles wie am Schnürchen. K erklomm die Treppe ins Erdgeschoss und schlüpfte durch die Hintertür auf den überwucherten Hof hinaus. Er setzte sich auf die Stufen und holte Zigarette und Feuerzeug heraus.
Einige Minuten später kam A heraus und lachte, als sie K entdeckte. „Rück meinen Stammplatz wieder her“, forderte sie gutmütig und setzte sich dicht neben ihn. Er gab ihr Feuer. Gemeinsam bliesen sie zwei Rauchwolken in den tiefblauen Abendhimmel.
„Sind M und die anderen mit den Vorbereitungen fertig?“, fragte K.
„Einer der Scheinwerfer zickt“, meinte A, „aber M hat seinen Cousin angerufen, der Elektriker ist. Die Vorstellung wird sich wohl verzögern.“
K nickte. Die Avantgarde-Gruppe, die an diesem Abend ihr unterirdisches Theater bespielen würde, übte ihr Stück bereits seit Wochen. Die Türen waren stets verschlossen geblieben, aber durch die Schlitze am Boden hatten sie bei jeder Probe wildes Blitzlichtgewitter gesehen. Was auch immer M und seine Gruppe aufführte, sie würden nicht ohne funktionierende Bühnenbeleuchtung beginnen.
„Das ist die letzte Vorstellung“, sagte A.
K sagte nichts. Sie wussten seit einem Monat, wann das Studentenheim geräumt werden sollte, und hatten nicht darüber gesprochen. Nicht ein Wort, bis O an diesem Morgen nach dem Frühstück angekündigt hatte: „Nach der Vorstellung will ich euch alle im Speisesaal sehen. Außerordentliche Generalversammlung, klar?“
Alle hatten gewusst, worum es ging. Jetzt beobachtete K, wie ein braunes Huhn zwischen hüfthohem Gras und Unkraut über den Hof stakste und lustlos an Kieseln, gebröckeltem Asphalt und Erdklumpen pickte.
„Ich weiß nicht mal, wo wir die herhaben.“ Mit dem Glimmstängel deutete er auf das Huhn. „Sollen wir sie in die Tierhandlung bringen?“
A lachte. „O hat vorgeschlagen, wir sollten ihnen die Hälse umdrehen und ein letztes Festmahl kochen.“ Als K sie entgeistert anstarrte, winkte sie ab. „Keine Sorge, ich nehme sie zu meinen Großeltern nach Aomori mit.“
„Ich wusste nicht, dass du Familie in Aomori hast“, murmelte K und konnte den verletzten Unterton nicht aus seiner Stimme verbannen.
„Als ich zum Studieren hierher gekommen bin, hatte ich so viele Hoffnungen …“, begann A.
K verstand. „Aber jetzt stürzt auch dieser Ort über unseren Köpfen zusammen wie ein Kartenhaus.“
„Der Nagel, der heraussteht, wird eingehämmert“, zitierte A.
K schnitt eine Grimasse und zündete sich eine neue Zigarette an. Sie alle hassten diese Redewendung. Das Huhn verschwand hinter einem windschiefen Geräteschuppen.
„Was wirst du tun, K?“, fragte A schließlich ungewöhnlich zaghaft.
Er zuckte mit den Schultern. „Weiter im Plattenladen arbeiten. Die Uni anbetteln, ob ich doch noch den Abschluss machen kann. Leben, irgendwie.“
„Glaubst du, du wirst irgendwann heiraten?“
K blies Rauch in den Himmel und schwieg. A war die letzte, mit der er übers Heiraten sprechen würde. Sie dagegen preschte wie immer furchtlos voran. „Ich ziehe zu meinen Eltern zurück. Sie haben dort ein paar Kandidaten für mich, die kann ich mir ja mal ansehen.“
„Was für ein Leben“, murmelte K und A protestierte nicht.
Durch die offene Hintertür erreichten gedämpfte Jubelrufe ihre Ohren. A stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Ms Cousin hat sie wohl gerettet. Kommst du?“
„Gleich“, sagte K. Inzwischen war es zu dunkel, um das verirrte Huhn zu suchen.
Bevor er hineinging, berührte er mit einer Hand das Wort, das jemand mit schwarzem Marker auf ein verblichenes Filmplakat an der Tür gekritzelt hatte: AUTONOMIE. Und die Tür des Wohnheims, das mehrere Jahrzehnte lang von den Studierenden in seinen Zimmern selbst verwaltet worden war, fiel langsam hinter ihm zu.
Diese Geschichte ist von Gregor Wakounigs Arbeit zu selbstverwalteten StudentInnenwohnheimen in Japan inspiriert. Weiterführende Lektüre gibt es hier und hier.
Tabakrauchen, Erwähnung von Gewalt an Tieren & Tiertod (ein kurzer Satz)