Inhaltswarnungen1
Ich warte auf dem Dach.
Als ich die Wohnungstür öffne, steht auf meiner Fußmatte ein leeres Marmeladenglas. Ich schraube es auf und stecke die Nase hinein. Der Duft von Lebkuchen, Zimt und würzigem Glühwein wabert mir entgegen, obwohl bereits seit zwei Wochen Januar ist. Eine gute Mischung, gebe ich widerwillig zu.
Trotzdem werfe ich es in den Altglascontainer, bevor ich die steinerne Altbautreppe zum Dach erklimme. Dieses Spiel, anfangs noch eine romantische Herausforderung - welche Düfte hat sie mir diesmal gemischt? -, hat seit langem seinen Reiz verloren. Es ist nur ihre Art, mir vorzuhalten, worüber sie sich eigentlich nicht beschweren darf: dass ich nicht da war.
Emma steht ganz vorne am Geländer. Als die Tür zum Dach verräterisch unter meiner Hand quietscht, dreht sie sich um. Im kalten, klaren Winterlicht sind ihre braunen Locken noch rötlicher, ihr Schal noch schwarzer auf der blassen Haut. „Du warst lange weg“, sagt sie. „Hast du mir etwas mitgebracht?“
Ich hebe das Glas, größer und runder als ihr Marmeladenglas, und stelle es auf die wacklige Holzbank vor dem Geländer. Darin schwimmen zwei Goldfische. Ihre winzigen Schuppen fangen das Sonnenlicht ein.
Sofort kniet Emma neben mir und betrachtet die Fische mit leuchtenden Augen. „Oh, Ivy. Die hast du den ganzen Rückweg mitgetragen?“
„Einen für dich und einen für mich“, bestätige ich. Um sie nicht ansehen zu müssen, trete ich dicht ans Geländer und starre über das Wolkenkratzerdickicht der Großstadt hinaus. Der Tag ist so klar, dass der graue Schleier am Horizont deutlich zu sehen ist. „Falls eine von uns in Zukunft Sprünge oder Risse bekommt, können wir sie damit kitten. Wir nehmen die Schuppen und zerstoßen sie.“
Kintsugi. Eine Technik, von der Emma in ihrer Töpferwerkstatt gehört hat, und eins der letzten Dinge, über die wir vor meiner Abfahrt geredet haben. Damals musste ich mich von ihren Tränen abwenden.
Sie packt meine Schulter. Jetzt liegt knisternde Wut in ihrem dunklen Blick. „Niemals. Ich werde keine Goldfische ermorden, nicht einmal um mich selbst zu reparieren.“
Ich hätte es getan, aber unter ihrer rechtschaffenen Empörung krümme ich mich klein zusammen. „Verstanden“, murmle ich, als hätte sie es auch mir unter Todesstrafe verboten.
„Wir werden uns gemeinsam um sie kümmern und sie werden uns Glück bringen.“
„Ja“, sage ich. Seit unserer ersten Begegnung vor vier Jahren, als sie mir befohlen hat, ihr noch ein Gin Tonic zu holen, war es so zwischen uns.
„Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“ Sie nimmt mich in die Arme und ich spüre ihre Wärme selbst durch unsere dicken Wintermäntel. Schließlich hebe auch ich die Arme und erwidere ihren Druck, bevor sie zufrieden zurückweicht.
Bevor Emma mich vom Dach zieht, werfe ich einen letzten Blick auf die Stadt unter uns. Ihre Stadt, ihre Freunde, ihre Vergangenheit. Die Goldfische waren als Bindung gedacht, die ich zu ihr knüpfen wollte, mein letzter Versuch. Aber auch sie hat Emma mir innerhalb eines Augenzwinkerns abgenommen und sich selbst einverleibt.
Aber die Goldfische sind das einzige, das ich ihr wieder nehmen kann. Zum ersten Mal schmecke ich Macht auf der Zunge und schaudere unter ihrem Rausch. Die Tür fällt knirschend hinter uns zu.
Andeutung Tiermord, emotionale Manipulation