Inhaltswarnung1
„Ich will nicht gestört werden. Egal, was meine liebe Mutter oder meine Cousinen sagen, niemand außer mir setzt einen Fuß über diese Schwelle. Verstanden?“
Der Diener verneigt sich. Yun öffnet die Tür, knallt sie ihm vor der Nase zu und atmet auf. Vor ihm liegt das dunkle Reich, das er sich geschaffen hat: eine Werkbank, auf der zwei Leute nebeneinander Platz hätten, Regale an den Wänden, die vor Hammern verschiedenster Größen, Schraubenziehern, Zangen, Klammern, Pinzetten und weiterem Werkzeug überquellen, Farbeimer, Pinsel und Paletten, Spritzer, Splitter und Späne auf allen Oberflächen und überall metallene Körperteile: Oberschenkel, Arme, filigrane Hände und sogar Gläser voll Augen, die in den Schmieden des Clans nach seinen präzisen Anweisungen angefertigt werden.
Im Vorbeigehen streicht Yun durch die weißen Perücken, die an einem Ständer neben der Tür hängen.
Sein neuestes Projekt liegt auf der Werkbank wie ein Opfer auf dem Altar. Der Mädchenkörper ist bereits zusammengebaut und mit künstlicher Haut überzogen, die er aus dem Sekret gewisser Pflanzen mischt. Kopf und Gesicht der Marionetten sind es, die stets mehrere Wochen dauern.
Leise summend entfacht Yun ein Feuer im Kamin und rührt die Hautpaste an, die über Nacht eingedickt ist. Dann nimmt er ein Ohr, bestreicht es damit und befestigt es an der dafür vorhergesehenen Öffnung am Kopf.
Er hält inne. Wäre er gläubiger, würde er in diesem Moment ein Gebet an die Urahnin der Noe schicken. Dieser Moment ist es, in dem er der Marionette den ersten Funken Leben einhaucht. Aber Noe Yun hat sich immer nur auf sein eigenes Können verlassen, nie auf andere.
So lehnt er sich zu dem muschelförmigen Ohr und flüstert: „In einem Königreich an der See lebte einst eine Jungfrau namens Annabel Lee2.“
Er flüstert: „Wir waren Kinder in diesem Königreich an der See, aber wir liebten einander so tief, so innig, dass die geflügelten Motten hoch über uns diese Liebe neideten.“
Er flüstert: „Sie schickten einen kalten Wind aus dem Dunkel der Höhlen herab, auf die schöne Annabel Lee. Der kalte Wind warf sie nieder und ihre Clanleute trugen sie fort von mir, um sie in einem Sarg einzuschließen an der See.“
Er flüstert: „Alle wussten, dass die Motten unsere Liebe neideten und daher den kalten Wind geschickt hatten, um uns zu trennen, mich und die schöne Annabel Lee.“
Er flüstert: „Aber mein Lebenslicht ist untrennbar verbunden mit dem Licht der schönen Annabel Lee. Der Abgrund flüstert mir Botschaften von ihr zu, bringt mir Träume von ihr.“
Er flüstert: „Und in den leuchtenden Adern im Gestein sehe ich ihre funkelnden Augen. Und nachts lege ich mich neben die See, neben meine Braut in ihrem Sarg, die schöne Annabel Lee.“
Er hustet. Seine Stimme ist nicht mehr, was sie einmal war, aber den Willen dahinter hat er durch viele einsame Tage und Nächte hindurch gestählt. Und dieser Wille ist es, an den die Marionetten sich erinnern, wenn sie die Augen öffnen, aufstehen und ihn zum ersten Mal ansehen. Daran erkennen sie ihn. Diese ist noch nicht so weit. Ihre Augenhöhlen sind noch leer, ihr fehlt noch die Perücke.
Aber wenn sie sich von dieser Werkbank erhebt und ihn sieht, wird sie sich an diese und viele andere Geschichten erinnern, die er ihr erzählen wird. Sie wird Liebe kennen und den Schmerz des Verlustes. Sie wird ihn erkennen, ihren Schöpfer und Meister, der ihr alles beigebracht hat, was sie weiß. Er wird ihr einen Namen geben und sie damit endgültig an sich binden.
Nicht heute, aber bald.
Yun richtet sich kurz auf und streckt den Rücken, bevor er das zweite Ohr nimmt und weiterarbeitet.
Marionetten
Inspiriert von Edgar Allan Poes Gedicht Annabel Lee.