Inhaltswarnungen1
Als Solbi auf der Treppe erschien, wusste Beryen, dass etwas nicht stimmte.
In den Wochen, die sie bereits miteinander ausgingen, war der Händlersohn stets charmant und erfreut gewesen, ihn zu sehen. Sie waren durch die Stadt geschlendert, waren in Teehäusern eingekehrt und hatten die schimmernden Erzadern am Abgrund betrachtet. Beryen hatte Solbi in sein Quartier eingeladen und Solbi Beryen in das Handelshaus seines Vaters.
Jetzt waren Solbis Bewegungen abgehackt, seine Miene ausdruckslos. Beryen traf ihn am oberen Treppenabsatz und legte die Hände auf seine Schultern. „Solbi, mein Lieber, was ist los? Bist du krank?“
Solbi sagte nichts. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Schließlich trat er ein, zwei Schritte vor und Beryen wich zurück. Vielleicht wollte sein Freund sich an die Klippe setzen, um den höchsten begehbaren Punkt der riesigen Höhle zu genießen. Tief unter ihnen lag die Hauptstadt mit den gedämpften Lichtkreisen des Leuchtmooses und den schimmernden Erzadern im Gestein.
Solbi würdigte die Aussicht keines Blickes, sondern blieb mitten auf der Plattform stehen. Hölzern wie eine Puppe.
„Solbi!“, rief Beryen und versuchte, das Kribbeln aus seinen Augen wegzublinzeln. „Ich fordere eine Erklärung.“
„Wie beängstigend“, sagte eine Stimme.
Beryen stolperte zurück. Solbi hatte die Lippen nicht bewegt.
Aus den Schatten hinter seinem Freund trat eine Gestalt: ein Mann in den Roben der Clans, die jedoch schwarz statt reinweiß waren. Eine rotes Brandmal überzog seine linke Wange. Die langen, knochenbleichen Haare waren zurückgebunden, seine Augen leuchteten orange und heiß wie glühende Kohlen. Als er einen Arm um Solbis Schultern legte, fiel Beryens Blick auf seine Finger und die schimmernden Fäden, die nur eins bedeuten konnten. „Du bist ein Noe.“
Der Fremde klopfte gegen Solbis Brust. Ein hohler Laut ertönte. „Wie ich sehe, bist du in all den Jahren nicht heller geworden, Meruun.“
„Wir kennen uns?“
Der Fremde starrte ihn nieder, forderte ihn heraus, die Frage selbst zu beantworten. Aber Beryen konnte nicht aussprechen, was er nicht wusste. Die Miene des anderen kühlte um mehrere Grad ab. „Noe Silmo. Klingelt da was?“
Beryen keuchte. Silmo war ein schüchterner Junge gewesen, hatte leise gesprochen, sogar gestottert, sich immer vor den Größeren und Stärkeren in der Tempelschule geduckt. Sein handwerkliches Geschick hatte ihm gute Noten eingetragen, ihn aber auch zum Ziel der faulen Tyrannen gemacht, die ihn gezwungen hatten, ihre Schulaufgaben für sie zu erledigen. Bis Beryen aufgestanden und den gemeinsten der Bande mit einigen Handgriffen zu Boden geworfen hatte. Damals war er kräftig gewesen, Silmo dagegen klein und zierlich.
Als Silmo ihn zaghaft angelächelt hatte, waren Beryen sein ovales Gesicht, die leuchtend orangen Augen aufgefallen. Mehrere Monate lang waren sie unzertrennlich gewesen. Nach den Abschlussprüfungen hatten ihre Wege sich getrennt und er hatte Silmo nicht mehr gesehen, nicht einmal auf Zusammenkünften der Clans.
Er warf einen Blick zu Solbi. Die Anwesenheit eines Noe, die Fäden, mit denen sie ihre Marionetten lenkten, die Reglosigkeit und die abgehackten Bewegungen … nein. Der Gedanke war zu ungeheuerlich.
„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte er stattdessen.
Der Silmo der Gegenwart grinste freudlos. „Nur ein kleines Experiment. Mein Äußeres hat sich meinem Inneren angepasst. Du dagegen“, er strich Beryen mit einem blutrot lackierten Fingernagel über die Wange, „bist immer noch so zuckersüß wie früher. Zum Brechen.“
Wieder huschte Beryens Blick zu Solbi. Nach diesem hohlen Laut wagte er nicht, ihn zu berühren, als könnte die Hülle bei der kleinsten Erschütterung zu Staub zerfallen. Eine Hülle, mehr nicht. Er ballte die Hände zu Fäusten und blinzelte die Feuchtigkeit aus den Augen. „Wenn das ein Spiel sein soll, dann hat es den guten Geschmack weit verfehlt, Noe.“
„Wie kalt! Ich muss schon sagen, damals in der Besenkammer hast du mir besser gefallen.“
Beryen presste die Lippen zusammen. Silmo war nicht der einzige, der grob sein konnte. „Was willst du?“
Das Grinsen verschwand. „Du erinnerst dich nicht?“
„Woran?“, rief Beryen aus.
Silmo schleuderte die Marionette beiseite, die laut auf den scharfen Felsen klapperte, und schloss die Hände um Beryens Hals. „Du hast mich weggeworfen, Süßer. Ich habe dir alles gegeben, was ich hatte, alles, was ich war! Ich weiß, es war erbärmlich wenig, aber du … du hast mich keines zweiten Blickes gewürdigt.“
Beryen schnappte nach Luft. Silmo drückte zu, immer fester, und seine Sicht verschwamm. Einen Herzschlag lang glaubte er, wieder den jungen Silmo mit dem schüchternen Lächeln vor sich zu haben.
Dann kehrte die verbrannte Fratze zurück. Als Silmo ihn losließ, hustete er und fiel auf die Knie. „Ich wusste nicht …“, krächzte er. „Ich hatte keine Ahnung, dass du so …“
„Dass ich so empfindlich sein würde?“, fauchte Silmo. „Natürlich, das unscheinbare Mauerblümchen kann ja zertreten werden. Es wird sich schon wieder aufrappeln! Eigentlich muss ich mich bedanken.“ Wieder grinsend deutete er auf die Marionette in der Ecke. „Ohne dich hätte ich nie ein Meisterwerk wie Solbi zustande gebracht. Alle waren erstaunt, wie schnell ich die Kunst lernte. Meine Marionetten sind die lebendigsten, geschicktesten und gehorsamsten in der Geschichte der Noe!“ Er klatschte in die Hände.
„Mach dich nicht lustig“, keuchte Beryen.
„Oh, niemals“, sagte Silmo kalt. „Du hast gezeigt, dass du deine Handlungen nicht bereust. Ja, du hast dich nicht einmal an mich erinnert. Das ist sehr ernst.“
„Was hätte ich denn …“
Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als Silmo ihn erneut würgte. Anders als Beryen, der die letzten Jahre über in seinem gut geheizten Büro gesessen und Dokumente geschrieben hatte, hatte der Noe sich offenbar fit gehalten. Egal, wie verzweifelt Beryen an seinen Armen, an seiner Kleidung zerrte, sein Griff blieb eisern.
„Leute sind keine Marionetten, Meruun“, flüsterte Silmo. „Wir bluten, wenn wir verletzt werden.“
Er fletschte die Zähne, schob Beryen immer weiter zurück. Unter seinen Fersen bröckelten Steinchen ab und fielen ins Nichts. Die Stadt lag tief, so tief unter ihnen. „Bitte …“
„Sehen wir mal, wie viel du blutest.“
Und Silmo ließ los.
Mobbing, körperliche Gewalt, Mord